Schostakowitsch, Dmitrij: Symphonie No. 4, Suite "Lady Mcbeth"
2006, 2005
2005
Dimitri Schostakowitsch
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Andrey Boreyko
Tr. 1 Dimitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43
Tr. 4 Dimitri Schostakowitsch: Suite op. 29a (aus: Lady Macbeth von Mzensk)
DMITRY SHOSTAKOVICH (1906–1975)
Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43 (1935–36)
Den entscheidenden Anstoß zu seiner Vierten Sinfonie c-Moll op. 43 erhielt Dmitri Schostakowitsch durch die Freundschaft mit dem Kulturphilosophen und Musikforscher Ivan Sollertinskij, den er 1927 kennengelernt und der 1932 das erste russische Buch über Gustav Mahler veröffentlicht hatte. Die 1935–36 entstandene Vierte Sinfonie stellt so etwas wie die Synthese zwischen den Tendenzen der frühen russischen Avantgarde einerseits und der spezifischen Idiomatik und dem Formdenken Gustav Mahlers andererseits dar – ein völlig neuer Weg für Schostakowitsch.
Diese künstlerische Idee reifte zunächst unabhängig vom politischen Umfeld der frühen 1930er Jahre. Aber mitten in die Arbeit platzte der berüchtigte Artikel „Chaos statt Musik“ in der „Pravda“ vom 28. Januar 1936, eine gnadenlose Abrechnung mit den „volksfeindlichen Tendenzen“ vor allem in Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk. Der „Sozialistische Realismus“, die Forderung nach „Volkstümlichkeit“ und „Verständlichkeit“, war nun die kulturpolitische Staatsdoktrin. Schostakowitsch komponierte die Sinfonie zwar zu Ende, entschloss sich aber nach Rücksprache mit engen Freunden noch in der Generalprobe, sie zurückzuziehen, zumal er mit der Leistung des Dirigenten, des deutschen Emigranten Fritz Stiedry, überhaupt nicht zufrieden war.
Die Vierte Sinfonie blieb in der Schublade; mit der kurz darauf folgenden Fünften, in einem deutlich abgemilderten und „populären“ Stil, konnte Schostakowitsch wenigstens die Duldung seiner Tätigkeit erreichen. Das Manuskript der Vierten verbrannte während der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg; Schostakowitsch rekonstruierte das Werk später nach dem Particell und dem Stimmenmaterial. Erst am 30. Dezember 1961 erlaubte es das politische „Tauwetter“, die Sinfonie endlich zur Uraufführung zu bringen. Es wurde ein überwältigender Erfolg für den Komponisten, obwohl das etwa 65 Minuten lange Werk enorme Ansprüche an Musiker wie Hörer stellt.
Das so verspätet aufgeführte Schmerzenskind unter den Sinfonien von Schostakowitsch gilt gleichwohl heute, in der Rückschau auf das gesamte Oeuvre, als sein sinfonisches Meisterwerk. Schon die formale Anlage des für ein Riesen-Orchester gesetzten Werkes ist außerordentlich originell. Zwei kolossale Ecksätze von je knapp einer halben Stunde Dauer umrahmen einen intermezzoartig kurzen Satz: ein erweiterter Sonatensatz an erster, ein skurriles Scherzo an zweiter und ein durch einen Trauermarsch eingeleiteter Finalsatz unterschiedlichster sinfonischer Charaktere an dritter Stelle. Ist der Trauermarsch die deutlichste Anknüpfung an Mahler, so der wie gequält brüllende Triumphmarsch am Schluss die Anti-Apotheose schlechthin, die auf dem Höhepunkt in sich zusammenbricht und die Sinfonie mit einem lang gehaltenen c-Moll-Dreiklang ersterbend ausklingen lässt – eine Vorwegnahme der bedrückenden Ereignisse der folgenden Jahrzehnte und doch ein sinfonisches Gemälde von großartiger, eindringlicher Kraft.
Hartmut Lück
Suite op. 29 a aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk
Zu dem frühen internationalen Ruhm von Dmitri Schostakowitsch hatte insbesondere seine 1934 mit großem Erfolg uraufgeführte Oper Lady Macbeth von Mzensk beigetragen. Dem Sieges- k zug des Werkes war allerdings ein abruptes Ende beschieden, nachdem es am 28. Januar 1936 in der Prawda, einer der bedeutendsten sowjetischen Zeitungen, Gegenstand eines vermutlich durch Stalin initiierten, vernichtenden Artikels wurde. In dessen Folge war Schostakowitsch gesellschaftlich und im Komponistenverband isoliert und wurde bis zu seiner vorübergehenden Rehabilitierung als Volksfeind der UdSSR gebrandmarkt. Im Mittelpunkt der Oper steht das Schicksal der Katerina Ismailowa, die in ihrer unglücklichen und kinderlosen Ehe mit einem wohlhabenden Kaufmann unter Einsamkeit und Langeweile leidet. Während einer längeren Abwesenheit ihres Ehemannes lässt sie sich auf ein Verhältnis mit dem Angestellten Sergej ein. Als ihr Schwiegervater die Liaison entdeckt, tötet sie ihn. Auch ihr misstrauischer Ehemann wird schließlich Opfer dieser todbringenden Leidenschaft. Erst während der Hochzeitsfeier von Sergej und Katerina wird der Mord entdeckt und beide werden verhaftet. Als sich Sergej auf dem Weg nach Sibirien einer anderen Frau zuwendet, stürzt sich Katerina in ihrer Verzweiflung in einen See und reißt die Nebenbuhlerin mit in den Tod. Elemente der Tragödie und der Satire gehen in dem Werk eine wohl kalkulierte Verbindung ein. Musikalisch zeigt sich das im Nebeneinander höchst dramatischer Szenen und banaler Klänge auf der Grundlage einer über weite Strecken verfremdeten Tonalität. Diesen polystilistischen Kontrast nutzte Schostakowitsch, um das musikalische Mitgefühl ganz auf die Figur Katerinas zu lenken und ihre Umwelt durch betont parodistische und groteske Mittel ins Lächerliche zu ziehen. „Ich habe mich bemüht, eine Oper zu schaffen, die eine entlarvende Satire ist, die die Masken herunterreißt und die ganze schreckliche Willkür und das höhnische Verhalten despotischer russischer Kaufleute hassen lässt.“
Es war Schostakowitsch ein großes Anliegen, immer wieder die außerordentliche Bedeutung der sinfonischen Wurzeln aller seiner Opernund Bühnenkompositionen zu betonen. Davon zeugen auch die gewichtigen Orchesterzwischenspiele, mit deren Hilfe er die neun Bilder der Oper zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfasst. In ihnen führt er die Entwicklung der Handlung weiter und schafft mit den Mitteln der Orchestrierung spannungsgeladene Kulminationspunkte. „Musikalische Zwischenspiele“, schrieb Schostakowitsch 1934 in einem Artikel zur Moskauer Premiere, „sind nichts anderes als die Fortsetzung und Entwicklung des vorhergehenden musikalischen Gedankens und spielen eine enorme Rolle bei der Abbildung der Ereignisse auf der Bühne. In dieser Hinsicht wächst die ungeheure Rolle des Orchesters, es begleitet nicht mehr, sondern spielt einen Part, der mindestens so wichtig ist, oder vielleicht sogar wichtiger, wie die Solisten und der Chor.“ Die aus drei Zwischenspielen zusammengestellte Suite op. 29 a arrangierte Schostakowitsch wahrscheinlich Ende 1932 kurz nach der Vollendung der Oper. Es ist anzunehmen, dass das dramatische Schicksal der Oper auch Einfluss auf die Aufführungsgeschichte der Suite hatte, dass also auch sie mindestens zwanzig Jahre lang nicht gespielt worden ist.
Anke Sonnek